Album der Woche:
Zu Beginn einer Karriere können Vergleiche mit berühmten Künstlern schmeichelhaft sein, aber irgendwann fängt es an zu nerven. Bei Stella Sommer war es 2019 so weit. Sie war gelangweilt davon, ständig nach den Sechzigerjahre-Ikonen Nico oder Hildegard Knef gefragt zu werden, weil ihre sonore, oft deklamierende Stimme so verblüffend ähnlich klinge. Nach zehn Jahren, in denen sie mit ihrer Band Die Heiterkeit und als Solokünstlerin kontinuierlich Musik veröffentlicht hatte, die von der Kritik mit wachsender Begeisterung gefeiert wurde, könne man doch nun auch einfach sagen: "Das klingt, als würde Stella Sommer ein Lied singen."
Vielleicht ist es mit "Northern Dancer" an der Zeit. Mit ihrem zweiten englischsprachigen Album gibt die 33-jährige Wahlberlinerin viel von ihrer gewohnten Unnahbarkeit auf und stärkt gleichzeitig ihren Anspruch, nicht nur in Deutschland, sondern auch international wahrgenommen zu werden.
Sommers Gesang, früher oft eingebettet in Indierock-Lärm oder durch Hall verfremdet, wirkt nicht mehr divenhaft distanziert, sondern warm und intim. Etwa wenn sie in "Shadows Come In All Colours" zu sakralem Orgelklang überraschend lieblich davon singt, dass sie Schattennuancen wie Schwarz und Blau als ihre Familie betrachtet. Das Zwielicht, die Zerrissenheit der Zwiespalt, bestimmende Themen auf Heiterkeit-Alben wie "Pop & Tod I+II" oder zuletzt "Was passiert ist", scheinen einer erlösenden Akzeptanz depressiver Veranlagung und Umstände gewichen zu sein. Eine Befreiung, offenbar, weil Sommer auch ihrer Stimme freien Lauf lässt.
Zu behutsamen Klavierarrangements oder leiser Gitarre, grundiert von schwirrender, orchestraler Perkussion, erzählt die im Nordseeküstenort St. Peter-Ording aufgewachsene Sängerin in ihren neuen Liedern folkmystisch Verrätseltes über rückwärts fließende Ozeane, Lichter auf dem Wasser oder Blumen, die nicht wachsen wollen. Es sind traurige, aber auch stolze Balladen einer einsamen Strandspaziergängerin, die durch allerlei Gemütsstürme hindurch immer mehr zu sich selbst und der Schönheit ihrer Musik gefunden hat.
Unnahbar bleibt sie natürlich trotzdem: "The Eyes of the Singer" beschreibt, wie man sich im melancholischen Blick einer Sängerin verlieren kann, betört und gebannt, ohne jemals eine Chance zu erhalten, ihre Aura zu durchdringen: "There's no way to see through her". In der an Sixties-Pop geschulten Single "A Lover Alone" wägt sie das Vermissen einer geliebten Person gegen die Erhabenheit und Autarkie der einsamen Liebenden ab. Ein Leben im Sehnen kann ja auch Lust bereiten.
Selbst wenn sie zu Beginn des Albums mit Hörnern und Schalmeien zum Ballett am Ufer eines Sees lockt, dann sind die Wesen, die dort warten, nicht unbedingt von menschlicher Gestalt. "Northern Dancer", das sollte man bei einem Pferdemädchen wie Stella Sommer vielleicht im Hinterkopf behalten, war der Name eines legendären Galopprennpferdes, ein englisches Vollblut. Sorry, boys!
Umso toller ist, wie verlässlich und souverän sich die Musik, gefühlvoll produziert von Max Rieger (Die Nerven, Ilgen Nur) mit umarmenden Chören und optimistisch hellen Sonnenstrahlklängen gegen die immanente Düsternis ihrer Schöpferin und ihren Hang zur Misanthropie behauptet. Im zeitgenössischen Pop aus Deutschland ist das schon ziemlich unvergleichlich. (9.5)
Kurz Abgehört:
Common - "A Beautiful Revolution Part 1"
Was fehlte, kurz vor der US-Wahl? Ein starkes Musik-Statement aus der Black Community: Conscious-Rapper Common ("Glory") knüpft mit R&B und Jazz an seine Narrative über Rassismus und soziale Ungerechtigkeit an, überlässt Sängerin PJ aber viel Rampenlicht. Spektakulär schön sind ermutigende Balladen wie "Courageous", Hip-Hop-Tracks wie "Say Peace" pulsieren funky und agitatorisch. (8.5)
Mondo Sangue – "Vega-5 – Avventure nel Cosmo"
Wenn Disneys Space-Western "The Mandalorian" nicht schon einen groovy Soundtrack hätte, dieses irre unterhaltsame Psychedelic-Pop-Album wäre die Alternative: Yvy Pop und Christian Bluthart schufen bereits fiktive Filmmusiken für Kannibalen-Horror und Italo-Pferdeoper, jetzt lassen sie Captain Future und Barbarella im Duett singen wie Nancy & Lee aus Sci-Fi-Stuttgart. Ad astra! (7.9)
Oneohtrix Point Never – "Magic Oneohtrix Point Never"
Starrt man zu lange auf das Albumcover, fühlt man sich wie von der Schlange Kaa hypnotisiert – und die elektronischen Klang-Kaleidoskope von Daniel Lopatin verstärken diesen Trance-Appeal: Der US-Avantgardist bündelt hier alle Aspekte seines bisherigen Schaffens, von Kammerpop bis Klirren, in einen radioartigen Stream mit Gästen wie The Weeknd und Arca. Für Shoegaze-Futuristen. (8.0)
Elvis Costello – "Hey Clockface"
Keine Flagge, keine Religion, keine Philosphie: "I've got a head full of ideas and words that don't seem to belong to me", singt New-Wave-Survivor Elvis Costello in "No Flag". Vielleicht wirkt sein 31. Album deshalb so disparat: Die zornigen Songs nahm Costello in Helsinki solo auf, den großen, eher larmoyanten Rest mit Barjazz-Band in Paris. Aber so ein Spagat glückt höchstens Bob Dylan. (5.0)
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